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Rezension "Deutsches Haus"

Annette Herr, Deutsches Haus

Erscheinungsdatum: 21.9.2018, gelesen dank netgalley als ebook (Kindle)

Genre: Historischer Roman, 3. Reich/60er-Jahre

Eva, eine junge, berufstätige Frau in den 60er-Jahren ist fast schon zu alt um noch unverheiratet zu sein. Als endlich ihr Auserwählter um ihre Hand anhält und sie auch dem eigenen Vater vorstellt, scheint ihre Zukunft gesichert.

Doch sie arbeitet als Übersetzerin für polnisch und gelangt halb zufällig an die Aufgabe Zeugenaussagen im ersten Auschwitzprozess zu übersetzen. Mann und Eltern wollen dies verhindern, doch Eva erkennt, dass diese Aufgabe, obwohl sie ihr die Zukunft rauben kann, von ihr getan werden muss.

Der Muff der 60er-Jahre, Verlobte, denen der Zukünftige die Arbeit verbieten kann, erste Gastarbeiter und erstes Aufbegehren gegen die Gefahr des Fremden, dazwischen gutbürgerliche Gemütlichkeit, Sicherheit und der Trost eines guten Essens, das ist die Atmosphäre in der dieses Buch handelt.

Dazwischen das Ungeheuerliche, Zeugenaussagen, die über eine Brutalität sprechen, die Unvorstellbar, nicht glaubbar scheint.

Wie mag es sein, wenn man das erste Mal von diesen Untaten hört? Was empfindet man, wenn man vorher wirklich nichts gewußt hat - weil man damals ein wenig zu jung war um sich zu erinnern und alle um einen herum geschwiegen haben? Diese erste Erkenntnis aus dem Nichtwissen heraus ist für uns Heutige schwer vorstellbar. Wußten wir doch schon früh etwas und doch nichts.

Das Besondere in diesem Buch ist, dass am Ende alle durch die Taten verwundet sind. Opfer, Mitläufer und Schweigende, deren Kinder und auch die, die es frühzeitig weg geschafft haben. Nur die tatsächlichen Täter scheinen unberührt. Bis zum Ende des Prozesses kommt kein "menschliches Wort", keine Bitte um Vergebung, kein Gefühl, dass Vergebung nötig sein kann. Die Opfer reißen sich das Herz aus dem Leib um der Gerechtigkeit willen, die Kinder des Schweigens können nicht mit der Schuld umgehen, die sie nicht verstehen.

Kann ein solches Buch aus fiktiven Gestalten dem Thema gerecht werden? Heute sind die realen Geschichten aufgeschrieben und erzählt, unerzählt sind nur noch die verschwiegenen Geschichten, die deren Erzähler tot oder nicht mehr klar genug sind um zu erzählen. Für die Zeugenaussagen im Buch werden reale Aussagen aus dem echten Prozesse bearbeitet, der Rest der Geschichte ist fiktiv.

Fiktiv und gut gelungen, denn die Personen wirken in ihrer Verletzlichkeit echt und wirklich. Die Geschichte berührt, aber arbeitet gerade nicht mit reißerischen Details, die Erkenntnisse in dem Geschehen entstehen nach und nach und die Geschichte versucht zum Glück nicht ein zuckersüßes HappyEnd aufzusetzen, sondern lässt Brüche und Fehler auch offen.

Sind die Geschichten alle erzählt? Oder müssen wir dringend über das Schweigen reden?

Altersmäßig bin ich eindeutig zu jung, da meine Eltern selbst Kinder im 3.Reich waren. Lange Jahre war ich mir sicher alles über die Geschichte meiner Familie in der Zeit zu wissen, doch das letzte Detail erfuhr ich als niemand mehr da war, der es mit Inhalten füllen konnte. Mein Urgroßvater fiel der Euthanasie zum Opfer und als ich dies das erste Mal hörte, gab es niemand in meiner Familie mehr, der aus eigenem Erleben meine Fragen hätte beantworten können.

Ein wichtiges und gut geschriebenes Buch!

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